Mind the Gap! Risiken und Fallstricke, wenn Sie Ihre Produktion in die USA verlagern wollen und wie Sie diese minimieren können

Jeder, der schon mal die Londoner U-Bahn benutzt hat, wird sich vielleicht an die Durchsage „Mind the Gap!“ beim Einfahren des Zuges erinnern. Die Ansage soll die Fahrgäste vor dem Spalt am Bahnsteig während des Einsteigens warnen. Diese Metapher trifft auch auf europäische Chemie-, Energie- und Fertigungsunternehmen zu, die vorhaben, ihre Produktion über die Kluft des Atlantiks in die USA zu verlagern. Es passiert leider immer wieder, dass europäische Betriebe aufgrund abweichender Standards, Gesetze und Normen, aber auch dem unterschiedlichen U.S. Marktumfeld bei der Abwicklung technischer Projekte Schiffbruch erleiden. Unwissenheit über diese Unterschiede und den daraus resultierenden Risiken können zu erhöhten Projektkosten, Verzögerungen bis hin zur Gefährdung der Existenz des Unternehmens führen. Zur Risikominimierung sollte sich daher der Eigentümer bereits in den Projektvorstudien sehr detailliert mit den technischen, regulatorischen und rechtlichen Differenzen auseinandersetzen.

Der Fokus liegt auf der Erkennung der Unterschiede und ein frühes Risikomanagement

Im Allgemeinen werden Risiken in Projekten basierend auf die Auswirkung der Kosten und Termine zur Behebung eines Problems kategorisiert. Dabei ist es auch allgemein bekannt, dass eintretende Risiken während der Planungsphase meistens durch einfache Entwurfsänderungen oder zusätzliche Genehmigungsmaßnahmen behoben werden können, was nur geringe Effekte auf die Projektkosten und den Zeitplan haben. (Siehe auch die „PLANNING + DESIGN“ Phase in Abbildung 1)

Abbildung 1: Einfluss von latenten Risiken während und nach einem technischen Projekt

Bei einem Neueinstieg in die USA ist allerdings die Gefahr von unerkannten Risiken besonders hoch. Diese latenten Risiken treten z.B. erst während der Installation, Inbetriebnahme oder des laufenden Betriebs auf. Hier ist der Einfluss auf Kosten durch Change Orders, und Produktionsausfälle oder sogar die Gefährdung von Menschen und Umwelt aufgrund nicht konformer Anlagendesigns, unsicheren Betriebs oder mangelnde Wartung besonders hoch.

In Deutschland ist z.B. die vorgeschriebene „Prüfung vor Inbetriebnahme“ beim Bau von bestimmten Anlagen mit Gefahrstoffen durch die Genehmigungsbehörde und/oder einem Dritten (z.B. DEKRA oder TÜV) eine letzte Instanz, die einen sicheren Bau der Anlage im Rahmen des Genehmigungsverfahrens attestiert. Dieser Prozess erlaubt eine deutliche Reduzierung des Betreiberrisikos und erhöht dabei auch die Rechtssicherheit beim Betrieb einer solchen Anlage.

In den USA gibt es solche Prüfungen vor Inbetriebnahme nicht. Die Verantwortung ob und wie eine solche Prüfung erfolgt, ist bis auf wenige Ausnahmen die alleinige Verantwortung des Betreibers. Zwar gibt es bestimmte bindende Vorschriften, die z.B. von der OSHA (Occupational Safety and Health Administration) veröffentlicht wurden. Diese Vorschriften sind jedoch oft nicht sehr klar in Bezug auf was genau zu tun ist und liefern zudem nur unvollständige Verweise auf andere Standards und Regelwerke.

Beispiel: Eine Prozessanlage mit Rohrleitungen und Equipment, welche Gefahrstoffe enthalten, wurde in den USA gebaut und in Betrieb genommen. Es wurde jedoch später festgestellt, dass die Konstruktionsdokumente keine Anforderungen für die Festigkeitsprüfung der Rohrleitungen enthielten und es daher versäumt wurde, eine Druckprüfung an den Rohrleitungen durchzuführen (siehe auch Qualitätskontrollanforderungen gemäß ASME 31.3 – ein Rohrleitungsstandard zur Herstellung und Prüfung von Rohrleitungen für Gefahrstoffe). In Deutschland und Europa sind die Rechtsvorschriften und zugeordneten Verantwortlichkeiten bei der Herstellung und Installation von Rohrleitungen klar definiert, weshalb die fehlenden Informationen sehr wahrscheinlich noch vor der Prüfung vor Inbetriebnahme durch den TÜV aufgefallen wären. In den USA liegt es aber alleinig beim Betreiber sicherzustellen, welche Merkmale an einer Anlage und deren Ausrüstungsteile vor Inbetriebnahme geprüft werden müssen. Daher liegt die Verantwortung, ob eine Anlage sicher ist, alleinig beim Betreiber und der muss daher in diesem Falle selbst entscheiden, ob der Betrieb ausgesetzt wird, um die Prüfungen nachzuholen, oder ob der Betrieb weiter fortgesetzt wird.

Das obige Beispiel soll darstellen, dass es in den USA im Vergleich zu Deutschland und Europa deutlich größere Freiheitsgrade, aber auch höhere rechtliche Risiken beim Bau und Betrieb von Chemieanlagen gibt. Daher sollten bereits vor der Projektabwicklung eine detaillierte Recherche der anwendbaren Regeln und ein Risikomanagement aufgesetzt werden, um das Auftreten solcher Probleme weitestgehend zu vermeiden.

 

Die Diskrepanz zwischen europäischen und US-amerikanischen Gesetzen, Codes und Standards und die Rolle von RAGAGEP

Europäische Unternehmen sind oft überrascht, wenn sie erfahren, dass es in den USA keine offiziellen Stellen gibt, die die Sicherheit und Konformität mit geltenden Vorschriften attestieren.

Wie bereits in unserem Artikel „Navigating the Land of Opportunity“ beschrieben, gehen europäische Firmen häufig davon aus, dass die USA ein ähnliches Rechtssystem wie Europa hat. Aufgrund dieser Annahme glauben ausländische Unternehmen oft, dass sie sicher und konform sind, sobald eine Genehmigung zum Bau und Betrieb der Anlage von den zuständigen Behörden vorliegt. Dieses trifft in den USA jedoch nur teilweise zu, da die dortigen Gesetze im Vergleich zu europäischen Gesetzen nur minimale Leitlinien geben und kaum Schutzmechanismen bieten.

In den USA sind Betreiber mit einem Flickenteppich aus Gesetzen, Vorschriften und verschiedenen Industriestandards konfrontiert. Dabei gilt es, die richtigen, allgemein anerkannten Regeln für den jeweiligen Anwendungsfall herauszusuchen.  Die Gesamtmenge der anwendbaren Regeln wird in den USA auch als „RAGAGEP“ (Recognized and Generally Accepted Good Engineering Practices) bezeichnet. Mit anderen Worten ist demnach der Betreiber verantwortlich, alle verfügbaren Informationen zu recherchieren und deren Anwendbarkeit zu bewerten. Dabei müssen auch Standards aus anderen Industrien mit in Betracht gezogen werden. Als Beispiel seien hier die API Standards zu nennen, die für die Öl- und Gasindustrie entwickelt wurden, aber typischerweise in der gesamten Chemieindustrie berücksichtigt werden. Doch selbst eine vollständige Identifikation und Einhaltung von RAGAGEP schützt das Unternehmen im Falle eines Unfalles nicht vor privaten Rechtsstreitigkeiten. Umgekehrt wird in Europa die Einhaltung von EU-Standards- und Codes bei der Anlagenplanung vor der Inbetriebnahme von unabhängigen Dritten und Regierungsbehörden zertifiziert. Dieser Prozess gibt dem europäischen Unternehmen ein sehr hohes Maß an „Rechtssicherheit“ einhergehend mit einer signifikanten Reduktion des Haftungsrisikos vor zivilrechtlichen Klagen.

Wie erreicht man RAGAGEP Konformität?

Eine der Grundfragen, die ein Unternehmen typischerweise beantworten muss, ist der Technologietransfer in die USA. Obwohl es theoretisch möglich wäre, eine Anlage 1:1 direkt nach europäischen Normen und Standards in den USA zu bauen und zu betreiben, verbirgt eine solche Replikation hohe Risiken, denn in diesem Falle würde fast vollständig von RAGAGEP abgewichen werden, weil ausschließlich auf Nicht-US Standards verwiesen wird. Nur mit einem sehr tiefgreifenden Verständnis der Normen und Standards beider Länder, gepaart mit der Kenntnis der Risiken, sollte ein Unternehmen solche Abweichungen in Erwägung ziehen. Des Weiteren ist es erforderlich, jegliche Abweichungen von RAGAGEP zu dokumentieren. Insbesondere bei Unfällen ist diese Dokumentation ein Kernelement, um nachzuweisen, nicht fahrlässig gehandelt zu haben.

Um Konformität zu erreichen, sollte der Betreiber im Falle des „Kopierens“ einer Anlage zunächst eine RAGAGEP-Interpretation zu den europäischen geltenden Standards durchführen, um Leitlinien für den U.S.-Engineeringpartner zu erstellen.

Ein guter Ansatz zum „Kopieren“ von Anlagen kann z.B. der Abbildung 2 entnommen werden.

Abbildung 2:  Bewährtes Verfahren zum „Kopieren“ einer EU-Produktionsanlage in ein RAGAGEP-konformes Design. Dieser Prozess ermöglicht eine systematische identifikation aller anwendbaren Regeln zur Reduktion der Projekt- und Betreiberrisiken.

Das Problem der „Overcompliance“ bei der RAGAGEP Interpretation

Aufgrund der Komplexität der Konvertierung eines Anlagendesigns und dem fehlenden Detailwissen entscheiden sich viele Unternehmen oft dafür, das RAGAGEP-Konformitätsrisiko auf einen externen, in den USA registrierten Ingenieurdienstleister zu übertragen. Dieser Ansatz eignet sich gut für standardisierte Systeme, wie z. B. das Entwerfen und Bauen von „Package Units“ oder Gebäude auf der Grundlage von Funktionsbeschreibungen. Es kommt jedoch häufig vor, dass spezielle Anlagendesigns wie z.B. Prozessanlagen in der chemischen Industrie nicht klar einer U.S. Norm oder gewissen Standards zugeordnet werden können. Hinzu kommen inhärente Unklarheiten, Überschneidungen und widersprüchliche Codes und Standards im U.S.-System, was dadurch unterschiedliche Codeinterpretationen zur RAGAGEP zulässt. Da ein registrierter Ingenieur (Professional Engineer) in den USA persönlich für die Richtigkeit der Designkonformität verantwortlich ist, neigt dieser daher dazu, im Zweifelsfalle redundant zu spezifizieren (Overcompliance). Zunächst ist das wünschenswert, aber es sollte geprüft werden, ob es tatsächlich aus sicherheitstechnischen Gründen erforderlich ist und ob dieses Vorgehen nicht die gesamte Anlagenfunktionalität beeinflusst.

Um eine reibungslose und transparente Übertragung des EU-Anlagendesigns in die USA zu ermöglichen, empfehlen wir daher, bereits zu Beginn des Projekts eine RAGAGEP-Interpretation des zu kopierenden Anlagendesigns durchzuführen. Dieses Vorgehen erlaubt es, sicherheitstechnische Lücken im Vorfeld zu identifizieren und eine transparente Risikobewertung zu erstellen. Diese Dokumentation sollte in die sicherheitstechnische Analyse (z.B. HAZOP) eingebracht und über den Lebenszyklus der Anlage fortgeschrieben werden.

Wer sollte in der GAP-Analyse involviert sein?

Gemäß der U.S. Occupational Safety Health Administration (OSHA) erstreckt sich RAGAGEP auf den gesamten Lebenszyklus einer Anlage, beginnend mit dem Design, Konstruktion, Betrieb bis hin zur Instandhaltung. Wie bereits in diesem Artikel erwähnt, ist RAGAGEP demnach kein einzelnes Dokument, sondern eine Sammlung aller anwendbaren Codes, Standards, technischen Bulletins und anderer empfohlener Praktiken, die in den USA verfügbar sind. Ein GAP-Team sollte daher aus allen, über den Lebenszyklus der Anlage betroffenen Disziplinen bestehen. Mindestens sollte das Team aus einem erfahrenen und qualifizierten Ingenieurteam, einem Sicherheitsingenieur, Rechtsanwalt, Projektmanager, Bauleiter und dem Einkauf zusammengesetzt sein. Das Team muss mit beiden, den europäischen und US-amerikanischen Vorschriften und Standards vertraut sein und sollte als direkter Berater zum Steuerkreis des Projektes fungieren. Die Aufgabe des GAP-Teams ist dabei, ein auf den Produktionsprozess zugeschnittenes RAGAGEP-Paket zu entwickeln. Dieses Paket dient als Leitfaden für das Projektteam zum Design, Bau, Betrieb und der Wartung der Anlage.

 

Abbildung 3: GAP Team Als Teil des Projektteams

 

Wann sollte ein GAP und Risikomanagementteam eingesetzt werden?

Viele Unternehmen suchen erst Rechtsbeistand, nachdem „das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist“, doch bei diesem Ansatz ist das daraus resultierende Risiko disproportional höher, denn neben der technischen Bereinigung des Problems können zivil- und strafrechtlichen Kosten aber auch Produktionsausfälle und Imageverluste des Unternehmens hinzukommen. Daher sollte eine Gap-Analyse als Teil der Risikomatrix bereits beginnend mit der Standortsuche / Feasibility Study in den USA durchgeführt und fortgeschrieben werden.

Dieser Artikel wurde Verfasst von Helge Nestler zusammen mit Brian Eftink und Jeffrey Maddux von Chambliss.

 

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